autarkie
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Hier werde ich in lockere Folge eigene und fremde Grundsatzüberlegungen zum Thema vorstellen. Wenn Autoren auffindbar sind, werden sie genannt. Auffällig und ermunternd ist, dass es in der Literatur und natürlich auch im Netz „kocht“.

Entwicklung globaler Subsistenz

Subsistenz ist nur im Weltsystem denkbar

Waren schon die sogenannten „primitiven“ Subsistenzgesellschaften nur lebensfähig, weil sie keineswegs nur lokal definiert, sondern in ein weitläufiges Netz von bestandssichernden Austausch- und Schutzbeziehungen eingebunden waren, so gilt dies noch mehr in einer Zeit, in der nicht nur der marktförmige Zugriff der wenigen verbleibenden Sieger, sondern auch die Plünderungsökonomien der von Robert Kurz als „sekundäre Barbarei“ bezeichneten Zusammenbruchsformen der Verlierer jede Perspektive auf gesicherte Entwicklung unmöglich machen. Einzig als globale Dynamik der gezielten Ausbreitung von Subsistenzformen innerhalb des Weltsystems scheint eine Lösung denkbar.

Subsistenz braucht Subsistenzwissen und Subsistenzmittel

Eine solche Ausbreitungsdynamik könnte durch einen Feedbackzyklus zwischen der Entstehung von Subsistenzformen und dem Repository von Subsistenzwissen und Technologien entstehen. Denn dann bleiben Solidarität und Widerständigkeit keine abstrakten Begriffe. Wenn jedes „Globale Dorf“ ein Experimentallabor für die Verbesserung des Wirkungsgrades unserer Eigenarbeit und damit letztlich für die Abkopplungssfähigkeit von der marktförmigen Reproduktion wird, dann ist die aktive Entwicklungshilfe bei der Entstehung globaler Dörfer ein Gebot der Stunde.

Wir brauchen eine Allianz der globalen Dörfer

Eine solche Allianz der globalen Dörfer hätte also ein gemeinsames Projekt. Man kann sich das bildlich so vorstellen: buddhistische und katholische Klöster, israelische kibbuzim, schottische und amerikanische ecovillages, gemeinschaftliche Wohnprojekte in Zürich und Wien, traditionelle Dörfer in Kamerun und Nepal und Griechenland, Bauhütten und experimentelle Projekte wie Arcosanti, New Alchemy, New Work, Akteursverbünde in Stadtvierteln, ländliche Gemeinden, Genossenschaften, Stadtteilprojekte etc. etc. erkennen, daß sie EIN Problem haben: eine gemeinsame Wissensbasis der Nutzung und nachhaltigen Gestaltung lokaler Ressourcen zu erstellen, zu pflegen, zu erweitern. Sie würden sehr rasch draufkommen, daß es nicht mehr um die Ausbreitung einer bestimmten Ideologie oder Religion geht, sondern um die Herstellung eines Referenzrahmens für die Sammlung kultureller und materieller Technologien selbstbestimmten Lebens. Das wäre das größte Open Source Projekt der Geschichte - und als solches in der Lage, dem kapitalistischen Projekt der Entwicklung proprietärer Kontrolle der Produktivkräfte ein ebenbürtiges Projekt gegenüberzustellen.

http://www.gaia.org

http://www.livingmachines.com

http://www.arcosanti.org

Barbara Tietze Industriekultur am Wendepunkt

Moderne Lebensformen: seßhaft oder nomadisch?

Nomadic Furniture hießen zwei Broschüren, die zu Anfang der 70er Jahre erschienen (Hrsg: Victor Hennesey und Paul Papaneck 1973/74) und ein Arsenal von einfachsten, im Transport raumsparenden Möbeln vorstellten. Dabei dachten die Verfasser an ihre akademischen Freunde, von denen das amerikanische Universitätssystem erhebliche Wanderungen abverlangt. Sie dachten jedoch auch an die ganz gewöhnliche amerikanische Familie, die damals im Schnitt alle 1,5 Jahre umzog. „We all live in a world of 1 Year leases, 3 month fashion and jobs, that may mean relocation every few months…. And yet we try to live with order and beauty of our own making, but without giving up flexibility.“ (Hennessey und Papanek 1974, S. 3). Das „Nomadische“ an diesen Möbeln waren simple klapp-, falt-, aufblasbare und zu bündelnde Konstruktionen.

Diese Bücher lösten bei Designern in aller Welt einen Boom an Projekten aus, die sich mit dem Existenzminimum und nomadischen Ausrüstungen befaßten, eine Begeisterung für Klapp- und Pappmöbel, für Rucksäcke, faltbare Marktstände, Campingausrüstungen, Wohnwagen und andere nomadische Objekte. Mit beweglichen Objekten, 50 dachte man, wird auch der Mensch beweglich.

Die Befreiung des Menschen von alten Bindungen, seine geistige und seine physische Mobilität, die Bewegung und ihre Geschwindigkeit sind seit dem späten 18. Jahrhundert das Thema kultureller Visionen. Am konkretesten wurden diese Utopien von den Entwicklungen der modernen Industriegesellschaft verfolgt. Von Technik und Planung im großen Maßstab erhoffte man sich Freistellung von alten Bindungen, moralische und physische Bewegung, kurz Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Komfort.

Die Sehnsucht nach Mobilität jedoch war der Traum einer extrem seßhaften Gesellschaft. Wirtschaft und Technik entwickelten sich nicht utopiegemäß sondern an der Realität orientiert und damit standortgebunden. Die Fabrik, das Wohnhaus und der persönliche Besitz blieben immobil und schufen Sachzwänge, die den Menschen veranlaßten zu bleiben.

Mit der Moderne und ihrer enthusiastischen Hoffnung auf die immer beweglichere Zukunft, auf Geschwindigkeit und Beschleunigung als kulturtragende Prinzipien schaffen sich die Sehnsüchte der seßhaften Gesellschaft nach nomadisierenden Lebensformen ein Ventil. Es entstand eine Diskrepanz zwischen Kultur und Technik, die besonders eindrücklich von den spätmodernen Architekturvisionen der 60er und 70er Jahre unseres Jahrhunderts beschworen wurde.

Es überboten sich die Architekten mit immer kühneren Utopien für den total ortsungebundenen Menschen. Die Konzepte hießen „Plug in - clip on city“ (Peter Cook und Yona Friedman) und meinten modulare städtische Strukturen aus Kapseln oder Containern, die man beliebig an stationäre Versorgungsstrukturen an- und abstöpseln konnte. Die neuen Wohnhüllen hießen „Bubble-Dome“ und „Un-house“ (Reyner Banham und Francois Dellegret: 1965) oder Suitaloon (Michael Webb: 1968). Aufblasbare Hüllen sollten dem Menschen zugleich zweite und dritte Haut sein. Sie alle arbeiteten an der Vision einer gigantischen Kunstwelt unter Einsatz minimaler und ortsungebundener Materialien.

Die zeitgeschichtliche Skepsis galt nicht der Technik als solcher sondern einer Technik, die anders als die modernen Versprechungen, Seßhaftigkeit aufzwingt. Die Industrie und den technischen Fortschritts wollte man für die neue Mobilität erschließen. Am bildhaftesten wird das bei Ron Herrons „Walking Cities“. Das sind gigantische Wohnmaschinen, Städte, die durch die Wüste wandern und in ihrer „technischen Vollkommenheit… wie hilflose Relikte einer vom technischen Fortschrittsoptimismus geprägten Epoche“ wirken. Mit einer gewissen Melancholie symbolisieren sie die Endstation des technisch Machbaren und eben diese „Ambivalenz“ macht „die bis heute wirksame fast allegorische Aussagekraft“ solcher Projekte aus. (Hans Peter Schwarz 1986 S. 316)

Der geistige Vater dieser spätmodernen Kultur aus Protest und Optimismus war Buckminster Fuller, selbst ein Arbeitsnomade, der von Vortrag zu Vortrag reiste. Fuller arbeitete sehr früh an dieser Problemkombination von einerseits gigantischen Überdachungen und andererseits nomadischen Häusern. Seine Visionen wollten beide Probleme in einem Zug lösen. Sein Utopia war zugleich eine künstliche Welt und eine Welt der Selbsthilfe und Eigeninitiative. Sein Dogma hieß Freiheit durch überlegene Anwendung technischer Errungenschaften. Seine Ideen trafen das Lebensgefühl einer Generation, die sich von den Bindungen an die moderne Wohlstandsgesellschaft frei machen wollten und sich als Partisanen eines alternativen, lastenfreien Lebensgefühls verstanden. Seine besten Kunden freilich waren die amerikanischen Militärs.

Nachdrücklich wirkten sich diese spätmodernen Ideen auch auf die Arbeitswelten in Industrie und Verwaltung aus. Der vollklimatisierte und künstlich ausgeleuchtete Arbeitsplatz und der Großraum mit flexibler Ausstattung sind eine praktische Umsetzung dieser optimistischen Visionen. Aus der „Plug-in-clip-on“ Stadt wird ein Thema der Haustechnik. Nicht Raumwelten wandern sondern lediglich Waschbecken, Menschen, Computer und Bürostühle. Die Spätmoderne geht in der Industriekultur auf und wird zum ästhetischen Sinnbild extrem seßhafter Kulturen.

Auch die Postmoderne setzt dieser Entwicklung keine tragfähig alternative Vision entgegen. Im Gegenteil verschaffen solche Bewegungen wie der „neue Regionalismus“ dem auf die solide Dauer und das Bleiben ausgerichteten System auch noch ein konsonantes Gesicht. Zu Recht hat man das Gefühl, daß sich die alten Sachzwänge im Gewand postmoderner Architektur mit einer lediglich neuen Fassade präsentieren. Die mangelnde zukunftsweisende Substanz dieser kulturellen Standpunkte machte viele Architekten unglücklich und führte zum nostalgischen Revival moderner Formenwelten.

Auch wenn die moderne Industriegesellschaft primär eine Kultur der Seßhaftigkeit ist, erlaubt sie dennoch einer nicht unerheblichen Zahl von Menschen ein nomadisierendes Verhalten. Seit jeher gibt es bei uns Berufe, die man als Nomadenarbeit bezeichnen muß, die aus dem Wechsel von Arbeitsplatz und Arbeitsaufgabe ihre und die Vertreter - um nur einige solcher unseßhaften Arbeitsformen zu benennen. Diesen Arbeitsnomaden gemein ist, daß die Familie in der Regel an einem festen Standort zurückbleibt. Binnenschiffer und Schausteller sind Nomaden, die oft mit der Familie reisen .

Ein Arbeitsnomade ist auch der erfolgreiche Manager. Kein amerikanischer Top-Manager würde sich mehr am Schreibtisch sitzend fotografieren lassen. Man sitzt allenfalls auf der Tischkante oder der Fensterbank, man befindet sich im Fahrstuhl oder auf der Treppe, besser im Auto telefonierend. Im Zweifelsfall ist man tatsächlich unterwegs. Die Arbeitsmittel hat man immer dabei. Der Büronomade arbeitet im Hotel, in der Lounge des Flughafens oder in irgend einem anderen Winkel. Gelegentlich zieht er sich mitsamt seiner Arbeit an einen einsamen Ort zurück. Das kann er machen, denn durch die Telekommunikation hat er die volle Kontrolle über das Geschäft.

Die moderne Bürotechnik ermöglicht nomadische Arbeitsformen ohne daß die Organisation leidet. Telefax, Labtop, Funktelefon machen es weitgehend überflüssig, die Verwaltungsarbeit an einen Ort zu zwingen. Es ist nicht mehr nötig, die künstlichen Bürowelten mit ihren unsinnigen Klimatisierungs- und Ausleuchtungskonzepten zu ertragen. Das Großraumbüro mit seiner gesundheitsschädlichen Ökologie ist für mehr und mehr Büroarbeiter kein Thema mehr. Man packt sein Bündel und verläßt diesen Ort der Leiden und des uneffektiven Arbeitens.

Neue Techniken machen es möglich wirtschaftlich auch in kleinen Serien zu produzieren. Ein Großteil der Arbeit, mit der man den Absatz vor- und nachbereitet, ist nicht mehr an den Ort der Fabrik gezwungen, ist nicht einmal effizient, wenn sie dort gemacht wird. Die Zusammenarbeit überwindet dank der modernen Telekommunikation auch die Distanz zwischen Mensch und Maschine und es entstehen neue Lebensformen, bei denen sich Arbeiten und Wohnen anders durchdringen als das in der alten Industriegesellschaft der Fall war. Es kann dezentralisiert werden und das ist die Voraussetzung für nomadische Lebensformen im großen Maßstab.

Die nomadische Überlebensphilosophie ist ein Gegenmodell zu den Werten der modernen Industriegesellschaft. Für das seßhafte System jedoch charakteristisch ist die Ausgrenzung der nomadischen Lebensformen als abweichend von dem „Normalen“. Für nicht-seßhafte Lebensformen haben wir - wie uns die verschiedensten Lexika bestätigen - neben dem Begriff „Nomade“ die unglaublichsten Begriffsdifferenzierungen. (Vagabunden, Fahrendes Volk, Reisende, Zigeuner, Landfahrer, Translokation etc.) Der Begriff „Seßhaftigkeit“ ist in den gleichen Lexika nicht einmal vorgesehen.

Ursprünglich waren die „nicht-seßhaften“ Lebensformen an die Art der Tierhaltung gebunden. Die Viehzüchter begleiteten das Vieh in ihrem Besitz mitsamt ihren Familien und ihrem Hausrat auf seiner Wanderung und entwickelten die entsprechenden ökonomischen und sozialen Lebensformen. Über diese Symbiose zwischen Mensch, Tier und Landschaft hinausgehend kennt die Zoologie zahlreiche Tiere, die biologisch mit einem arteigenen und lebenserhaltenden Bewegungstrieb ausgerüstet sind. Es gibt zahlreiche Arten, deren Lebensform die nahezu permanente Gruppenwanderung ist.

Die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte der Ortswechsel, der Kreuzzüge, der Kriege und Völkerwanderungen. Alle diese Bewegungen haben biologisch und kulturell positive Auswirkungen gehabt. Auch in den Einzelbiographien beteiligter Menschen haben diese extrem unsteten Lebensformen trotz grausamster Ereignisse einen erstaunlich hohen und positiven Stellenwert. Die verzweifelten Sehnsüchte der seßhaften Menschen nach Ortswechsel haben vielleicht auch eine biologische Verhaltenswurzel. Das Nomadenleben - zumindest der Wechsel zwischen Seßhaftigkeit und Ortsveränderung - ist möglicherweise artgerecht. Die Menschheitsgeschichte ist auch ein Thema der Paläontologie.

Insofern ist es vielleicht kein Paradox sondern die innere Logik der historischen Entwicklung, daß die moderne Industriegesellschaft selbst die verschiedensten Formen des Nomadismus hervorbringt. Der „Urlaubsnomade“ demonstriert die positiven gesundheitlichen Auswirkungen des gelegentlichen Ortswechsels und die negativen Erscheinungen des organisierten Nomadentums. Produziert doch diese Art des massenhaften und zeitlich koordinierten Völkerwanderung neue steinerne Wohnsilos an Ferienorten und den Verkehrsstau und damit wieder Merkmale einer Bewegungslosigkeit, mit der Seßhaftigkeit erzwungen wird. Dennoch ist diese ethnologisch sicherlich absonderliche Fehlentwicklung kollektiven Verhaltens auch eine Demonstration. Das Wandern hat einen triebhaften und insofern vielleicht auch biologischen Hintergrund.

Auch die Wirtschaftsstruktur der entwickelten Industriegesellschaft verursacht ihre eigenen Abarten nomadischer Lebensformen. Die Arbeitsvermittlung verlangt von ihrer Klientel zunehmend eine Bereitschaft zur Mobilität, die man nur als „Arbeitsnomadismus“ bezeichnen kann. Steigende Mieten und der Mangel an preiswerten Wohnmöglichkeiten verursachen weitere Formen des wirtschaftlich bedingten Nomadismus. Eine zwar mechanisierte nichts desto trotz aber auch etwas nomadische Problemlösung ist das Pendeln zwischen Wohnort und Arbeit. Der „Beiwohner“, die Existenzform des von Bekannten zu Bekannten ziehenden Schlafgastes, ist eine zahlenmäßig zunehmende Erscheinung insbesondere in den Großstädten. Der Beiwohner ist die Vorform des Obdachlosen, der auch „City-Nomade“ genannt wird.

Statistisch gravierender sind die weltweiten Völkerwanderungen, die durch Kriege, politische und wirtschaftliche Gründe insbesondere in der Dritten Welt verursacht werden. Diese Krisen hängen auch mit der systembedingten Asymmetrie des Weltwirtschaftwachstums zusammen. Hinzu kommt ein mehr und mehr durch ökologische Belastungen verursachter Nomadismus. Die anhaltenden deutschen Abwanderungen von Ost- nach West z.B. werden u.a. durch eine ausweglos erscheinende Umweltverschmutzung veranlaßt.

Unfälle in Atomkraftwerken wie Tschernobyl oder auch die klimabedingte Anhebung des Meeresspiegels machen eine großmaßstäbliche und dauerhafte Evakuierung von Millionen von Menschen unvermeidlich. Die zwangsweise Aufgabe des festen Wohnsitzes macht ein nomadisches Leben unvermeidlich. Der aufgezwungene zumindest vorübergehende Nomadismus ist die konsequente und unvermeidliche Endlösung des Wirtschaftskonzeptes vom grenzenlosen Wachstum.

Die Arbeits- und Lebensformen, über deren Humanisierung wir in den letzten zwei Jahrzehnten diskutierten, verfolgten hingegen andere Ziele. Die Arbeit in Industrie und Verwaltung war ebenso wie ihre „humanisierten“ Varianten der modernen Industriegesellschaft verpflichtet, einer Gesellschaft also, die auf Seßhaftigkeit, Ordnung und Dauerhaftigkeit abzielt. Die Entwicklung der modernen Technik war geleitet von der Vision großmaßstäblicher Problemlösungen und dem Glauben an die Planbarkeit des sozialen Fortschritts. Auch die strategischen Korrekturen wurden im großen Maßstab geplant. Arbeitsschutz und -hygiene wollte man über Normung durchsetzen, über Richtlinien und sog. „gesicherte“ Erkenntnisse zu Mensch und Arbeit.

Mit der modernen Planung allerdings ist es so ähnlich wie mit der modernen Hochleistungsmedizin. Die Summe der durch Behandlung verursachten Erkrankungen steht in einer gefährlichen Relation zu den unzweifelhaften Behandlungserfolgen. Auch Planung ist gelegentlich toxisch und es ist keineswegs immer so, daß ein Mehr an Planung auch zu einem reibungsloseren Funktionieren geschweige denn einem Mehr an Lebensqualität führen muß. Das ist ein Thema für Verkehrs- und Stadtplanung (Vgl. Cullen, 1990), für den Sozialen Wohnungsbau (Vgl. Blomeyer und Tietze, 1985) und die Entwicklungspolitik (Vgl. Erler, 1987; Pater und Striepke 1986).

Die Opposition gegen die moderne Industriekultur und die kulturellen Pfeiler ihrer Entwicklung wird zunehmend größer. (vgl. auch Blomeyer und Tietze, 1980) Für die zwangsläufigen Konflikte zwischen den Experten und den von ihren Planungen Betroffenen ist die Ergonomie mit ihren sogenannten „gesicherten Erkenntnissen zur Gestaltung der Arbeitswelt“ ein besonders drastisches Beispiel.

2. Industriekultur und Nomadismus

Tatsächlich integrieren alle Gesellschaften sowohl nomadische als auch seßhafte Lebensentwürfe. Überlebenswichtig für den Nomaden ist die Oase, der Handel mit den Seßhaften und auch eine gewisse Lebensplanung und Vorratswirtschaft. Überlebensnotwendig für die Seßhaften sind nomadische Träger des Verkehrs und ein gewisses, nicht zu geringes Ausmaß an organisatorischer und örtlicher Flexibilität. Auch in ästhetischer Hinsicht lassen sich an vielen Objekten - egal ob aus eher seßhaften oder eher nomadischen Kulturkreisen stammend - sowohl nomadische als auch seßhafte Werte erkennen. Die Überlebenschancen einer Kultur steigen mit der Integration der polaren Gegensätze.

Man will sich von den Schwankungen der Jahreszeiten, von den Eigengesetzlichkeiten der Außenwelt und von den Unbillen der Natur unabhängig machen. Die moderne Zivilisation macht sich diesen Anspruch zu eigen. Auch die Unordnung durch die variable Natur des Menschen gilt es zu überwinden. Wo es nicht anders geht, ersetzt man den Menschen durch Maschine oder Automat und die Natur durch künstliche Welten, die diese Art der Kontrolle und der Kontinuität ermöglichen. Wohnung, Schule, Fabrik, Krankenhaus und Verwaltung: alle diese Lebensfunktionen haben in dieser Gesellschaft ihre festen Programme und Standorte, auch das Kapital, das sich in der Bank befindet.

Die Bindung des Städters hängt u.a. damit zusammen, daß er durch seinen Besitz, seine physischen und organisatorischen Lebensgrundlagen gebunden ist und er sie schützen muß. Der Schutz wird an schwerfällige und unbewegliche Institutionen delegiert. Solche Institutionen sind Wissenschaft und Forschung, das Militär und die Polizei.

Nomaden hingegen leben in mobilen Behausungen. (Zum Nomadismus im Unterschied zur Lebensform der Seßhaftigkeit vgl. Hemhold 1990) Nicht nur durch das Haus, auch durch die Art ihres Wohnens und Arbeitens unterscheiden sie sich von den Seßhaften. Vor allem aber haben Nomaden eine andere Beziehung zum Besitz. Ihr Haus und ihre Arbeitsmittel müssen beweglich sein. Der nomadische Besitz muß auf- und abbaubar sein, transportabel und dabei extrem raumsparend. Der feste Besitz wird weitestgehend reduziert. Man lebt mit den überlebensnotwendigen Dingen und definiert das sogenannte „Existenzminimum“ anders als die Seßhaften. Das nomadische Kapital, der eigentliche „Besitz“ ist beweglich und immer dabei: die Herde, das Zigeunerauto, der Schmuck der Frauen, die handwerkliche und künstlerische Qualifikation.

Das gesellschaftliche Wissen wird von der seßhaften Gesellschaft in Buchform gespeichert. Die Bücher haben einen festen Standort in Form der Bibliothek. Träger des nomadischen Wissens sind die Menschen, die Familie und der Clan. Das nomadische Wissen ist oft geheimer Art. Es wird von Mund zu Mund und Generation zu Generation weitergegeben. Das nomadische Wissen ist ein Erfahrungswissen um die Überlebenstechniken in Natur und Gesellschaft. Eine nomadische Heilkunst, die in dieser Form eines Geheimwissens beispielsweise die jüngere chinesische Gesellschaft überlebte, ist das Qui Gong: eine Technik der medizinischen Selbsthilfe, die mit Atemtechniken und Autosuggestion selbst beim Gehen und Autofahren praktiziert werden kann.

Der Nomade schützt sich, indem er sich auf seine Erfahrung und seine instinktive Phantasie verläßt und den Gefahren ausweicht. Von Vater und Mutter lernt der Nomade seine Instinkte zu entwickeln, sich einfühlend und ganzheitlich gegen eine oft feindliche Umwelt durchzusetzen. Das erfordert eine intensive und vertrauensvolle Familienstruktur.

Seine Beweglichkeit erlaubt dem Nomaden ein Höchstmaß an Freiheit. Er kann auf die Jahreszeiten reagieren, auf das Klima, auf die Gegebenheiten der Landschaft. Dem politischen und sozialen Verdruß entzieht er sich durch Wegzug. Das nomadische Ausweichen ist aber auch so etwas wie ein permanenter Aufstand. Den seßhaften Nachbarn macht das wütend und neidisch. Die Beziehung zwischen den Seßhaften und den Nomaden ist das gegenseitige Mißtrauen, zumindest die Konkurrenz. Die Seßhaften sehen sich als höhere Stufe in der Evolutionsgeschichte. Nomaden werden als asozial, primitiv und entwicklungsbedürftig abqualifiziert. (Vgl. dazu die Geschichte der Zigeuner und Landfahrer in Vossen 1983)

Die Angst der Seßhaften gilt den Völkern, die eine verbrannte Erde hinter sich lassen. Immer noch fürchten die Seßhaften, daß die Nomaden lediglich abgrasen und mitnehmen. Nomaden und Seßhafte, das sind auch die Nachfahren von Kain, dem Ackerbauern und Abel, dem Schafhirten. Der Nomade demonstriert, daß die Sachzwänge der Seßhaftigkeit auch eine ganz individuelle Entscheidung widerspiegeln. Der Nomade beweist den zurückbleibenden Seßhaften, daß die Schmerzen des Bleibens kein Naturschicksal sind, daß die Sehnsucht nach Planung und formaler Kontinuität ihren psychologischen Preis hat. Dafür wünschen die Seßhaften den Nomaden den Tod.

Und darum schaffen die Seßhaften Barrieren zwischen sich und den Nomaden. Die Nomaden werden aus ihrer Gesellschaft ausgegrenzt und ausgeschlossen. Ihnen werden Ein- und selbst noch Durchreise verboten. Allenfalls ist ihr Ort ein Lager, das sie - zumindest vorübergehend - zu besonders fremdbestimmten seßhaften Lebensform zwingt.

Für das seßhafte System gefährlicher noch als die Begegnung mit den Nomaden ist die nomadische Sehnsucht der eigenen seßhaften Bevölkerung. Symbol für die explosive Konfrontation zwischen nomadischer Freiheit und seßhafter Zivilisation ist die Mauer. Die chinesische Mauer grenzte die nomadisierenden mongolischen Stämme aus dem Reich der Seßhaften aus. Mit Berliner Mauer und eisernem Vorhang wollte ein extrem seßhaftes System die politisch bedingte Abwanderung, die auch eine Abart des Nomadismus ist, unterbinden.

Die moderne Industriegesellschaft produzierte ein Übermaß an seßhaften Lebensentwürfen. Wenn sich das nomadische Prinzip nicht nur in Form von Krisen durchsetzen soll, ist es an der Zeit die eigenen Werte zu überprüfen und vorbeugend neue Formen der Integration beider „Formpole“ zu entwickeln. Die verschiedenen Kulturmuster, um die es hier geht werden deutlich, wenn man seßhafte und nomadische Kulturtechniken einander gegenüberstellt. Das soll im Folgenden am Beispiel des Wohnens und der Produktion textiler Materialien geschehen.

Die traditionelle nomadische Wohnform ist das Zelt. „Eine textile Membran stiftet einen Innenraum“. (Hemhold a.a.O.) Das Zelt bietet Schutz vor Blick und Wetter. Es hat in der Regel keine Fenster, denn die im Zelt lebenden Menschen leben ebenso außen wie innen. (Vgl. Synkiewicz 1989 und Róna-Tas 1989) Die Wohnform des Zeltes ist die soziale und psychologische Durchdringung von Innen- und Außenraum und das soziale Miteinander, nicht die Individualisierung des Menschen. Das demonstriert auch der Sprachgebrauch. Die Bedeutung des türkischen Wortes „jurt“ ist nicht nur Zelt, sondern auch Lagerplatz, Wohnort, Land und Heimat. Es bezeichnet auch die Region, die von den Nomaden innerhalb eines Jahres durchquert wird. „jurt“ ist gleichzeitig die Bauhausung und die Umgebung.

Eine Jurte ist die Spezialform eines Zeltes. Ihre Konstruktionsprinzipien haben Jahrhunderte lang bis heute fast unverändert überlebt und sind so besehen dauerhafter als manches steinerne Baudenkmal. (Vgl. Faegre 1979) Eine moderne Interpretation der mongolischen Jurte ist das Dymaxion Haus von Buckminster Fuller. Nicht nur aus Traditionsgründen sondern des Komforts wegen leben auch heute noch Dreiviertel der mongolischen Einwohner in Jurten.

Eine Jurte besteht aus einem rundgebauten, hölzernen tragenden Gerüst, über das mehrere Lagen von Filzteppichen gehängt werden. Von einer 6-köpfigen Familie kann eine Jurte in 20 Minuten ab- oder aufgebaut werden. Textile Zeltwände - so auch die Wände der Jurte - halten kaum länger als 5 bis 10 Jahre. Sie müssen regelmäßig repariert und ersetzt werden. Der konstruktive Umgang mit den Gebrauchsspuren und dem Verfall der Dinge ist Teil des nomadischen Lebens.

Das Zelt, die Rituale seines räumlichen Gebrauchs und insbesondere das Feuer im Inneren des Zeltes stiften eine magische Beziehung zu dem Familienclan. Die meisten nomadischen Zelte haben eine zeitlich beschränkte Lebensdauer, die mit dem Leben und Sterben der Familie zusammenhängt.

Das Zelt ist demnach ein temporäres Ereignis, es erlaubt Spontanität und ein Leben im Bewußtsein der Vergänglichkeit. Die Diskontinuität des Zeltraumes steht in Kontrast zu den dauerhaften Räumen der fest fundamentierten Architektur. Die sogenannten Hochkulturen mit ihren steinernen Abgrenzungen gegen das Außen haben auch ein steinernes Zeitverständnis. Am krassesten läßt sich das an den ästhetischen Leitvorstellungen der modernen Industriekultur ablesen. Man spart die Zeit, man überlistet die Zeit, man schaltet die Zeit aus durch „zeitlose“ Formgebung. Die Zeit kommt zurück in Form von Gebrauchsspuren und Verfall. Beide Erscheinungen gelten dem modernen Hochglanzbewußtsein als bedrohlicher und schmutziger Alltag. Raum, Zeit und Ordnung haben eine kulturbedingte gemeinsame Struktur. Nomadische Kulturen verfolgen einen anderen Ordnungsbegriff und damit auch einen anderen Begriff von Raum und Zeit als seßhafte Kulturen. In einprägsamer Form läßt sich das an der Produktion textiler Materialien ablesen.

3. Ästhetik und Arbeitsformen: Nomadische und nicht-nomadische Textilien

Ein typisches nomadisches Objekt ist der Kelim. Das ist ein flachgewebter Teppich, der gut zu transportieren ist und den man in größeren Mengen für die Innenausstattung z.B. von Beduinenzelten oder Jurten einsetzt. Kelims werden in schmalen Bahnen, d.h. auf transportablen Webrahmen gewebt. Sie entstehen im Lauf der Wanderung an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten. Man bricht ab und macht an anderer Stelle weiter. Die zahlreichen Neuanfänge sind in Farbe und Muster abzulesen. Nicht nur die zeitbedingten auch die logischen Sprünge im Muster, die „Fehler“ gehören zu der Kultur der Kelims. Das hängt u.a. mit den religiösen Leitbildern der islamischen Nomaden zusammen, nach deren Vorstellung eine allzu große Perfektion als Gotteslästerung zu gelten hat. Das menschliche Werk gilt als prinzipiell fehlerhaft. Nur Allah selbst und sein Werk ist vollkommen. Der Mensch muß sich in Demut mit den menschlichen Fehlern abfinden. (Vgl. Kybalova 1975, Tietze 1990~

Ein ebenfalls typisch nomadisches Objekt ist der Filzteppich. Das Filzen ist eine sanfte und umweltschonende Technik. Mit der Rohwolle wird eine ökonomische Ressource genutzt, die - anders als Leder und Fell - stets nachwächst. Unter ökologischen Gesichtspunkten ist interessant, daß Filz gänzlich abfallfrei hergestellt bzw. verwertet werden kann. Man kann jeden Verschnitt, jedes mißlungene Stück, jeden Schnipsel weiter verarbeiten.

Modellhaft ist der wollene Filz mit den traditionellen Lebensformen der Nomaden verbunden. Aus Filz werden seit jeher nicht nur Teppiche und Zeltwände sondern auch Kleidungsstücke hergestellt. Hirten und Nomaden haben eine Filzkultur entwickelt, bei der das einzelne Objekt oft ein Mittelding ist zwischen Möbel, Mantel und Zelt. Auch in der Untersuchung des Filzes als stoff- und raumbildender Technik und den daraus resultierenden Qualitäten lassen sich grundlegende Einsichten über kulturelle Strukturmuster des Nomadismus gewinnen.

Von Hand gefertigte Filzprodukte sind immer unregelmäßig, immer verschieden und niemals „perfekt“. Das Filzen ist die Urform einer Zivilisationstechnik, der überschaubare überlebenspraktische Umgang mit Feuer, Wasser, Luft und Erde. Insofern ist der handgemachte Filz auch heute noch so etwas wie ein Kontrastsymbol, ein Aufstand gegen die ästhetischen Normen der modernen Industrie, die man auch als kulturelle Endform der Seßhaftigkeit bezeichnen kann. Der Filz demonstriert die Leistungsfähigkeit der nicht von Arbeitsteilung und Maschine belasteten Hand.

Filzen kann man an fast jedem Ort. Die Arbeit kann man nach einem gewissen Anfilzen auch unterbrechen und zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen. Zeitliche Sachzwänge ergeben sich lediglich durch die Verfügbarkeit eines qualitativ hochwertigen Rohmaterials (nachwinterliche Schafschur) und klimatische Umstände. Wenn die nasse Wolle zu schnell erkaltet, wird der Prozeß des Filzens verlangsamt bzw. unökonomisch, weil dann zuviel mechanische Arbeit und zuviel heißes Wasser notwendig wird, um die physischen Bedingungen für das Gelingen des Werkstückes zu halten. Auch für die arbeitenden Menschen ist es bei Kälte nicht angenehm, selbst naß zu werden. Hinzu kommt: sowohl die Teppiche als auch die Arbeitskleidung brauchen dann zu lange, um zu trocknen. Das Filzen ist traditionell also eine eher saisonale, an warme Jahreszeiten gebundene Arbeit.

Das Material und seine Herstellung entsprechen der sparsamen, diskontinuierlichen und autarken Lebensform der Nomaden. Das Filzen ist eine Arbeit, die den Menschen kulturell prägt, weil sie auch der Geschichte des Materials und dem zukünftigen Gebrauch verpflichtet ist. Vom Vorgang des Filzens untrennbar sind die vorgeordneten Prozesse von Schafzucht und Landschaftspflege und ebenso die nachgeordneten Prozesse des Gebrauchs. Der fertige Filz ist ein ganzheitliches Dokument nomadischer Lebensform.

Es verdeutlicht die spezifischen Charakteristika des Filzens, wenn man es mit einer anderen stoffbildenden Tätigkeit - nämlich dem Weben - vergleicht. (Vgl. Hemhold a.a.O.) Das Weben erfordert zumeist eine auf das Bleiben ausgerichtete Lebensform. Normale Webstühle sind zu groß, um sie in das nomadische Leben einzupassen. Sie sind auch zu schwer ab- und wieder aufzubauen. Zunächst wird beim Weben das Rohmaterial gesäubert und gerichtet. Durch das Spinnen werden die Fasern dann in ein Ordnungsgefüge gezwungen, das den Faden, „ein meßbares Endlosgebilde“ (Hemhold, a.a.O.) entstehen läßt. Das zunächst chaotische Ausgangsmaterial wird linearisiert und im späteren Webvorgang geometrisiert.

Das Weben erfordert im Gegensatz zum Filzen eine zeitaufwendige und differenzierte Planung und erhebliche vor- und nachbereitende Arbeiten. Die Planung und der Stoffentwurf ist zumeist Leistung eines Einzelnen, die eigentliche Herstellung kann kontinuierlich und additiv durch beliebige Ausführende erfolgen.

Das Filzen ist im Vergleich zum Weben ein urtümlicher, unmittelbarer und sinnlicherer Vorgang. Die Arbeitsvorbereitungen sind minimal. Geruchs- und Tastsinn sind gefordert. Der Prozeß unterliegt einem haptischen und kinästhetischen Feedback, die visuelle Kontrolle des Prozesses ist demgegenüber relativ unwichtig. Auch die Qualitäten des Filzes werden weniger vom Auge als von den in der Haut angesiedelten Sensoren und dem ganzheitlichen, z.B. klimatischen Empfinden des Menschen wahrgenommen.

Moderne Lebensformen: seßhaft oder nomadisch?

Auch das Filzen erfordert gewisse, im Einzelfall jedoch schnell zu leistende Vorarbeiten. Gefilzt werden kann überall und man braucht dazu fast kein Werkzeug. Zunächst werden die Vliese grob gesäubert. Dann werden die wirren Schafshaare durch mechanisches Kämmen oder rhythmisches Schlagen auf einer Art Pauke gerichtet. Anschließend wird das so aufbereitete und gelockerte Rohmaterial in den Maßen des Teppichs ausgelegt. Mit Hilfe von Heißwasser und Molke oder Seife und unter mechanischer Einwirkung in Form von Reiben, Walken, Rollen, Stampfen oder Schütteln, oder auch Schocks durch Wechsel von heißem und kaltem Wasser wird die Wolle dann zum Filz komprimiert. Dabei schrumpft das Werkstück erheblich. Das vorgeordnete Material geht im Verlauf des Filzens ein neues Chaos ein, das nicht mehr lösbar ist und die Grundlage der neuen Stabilität bildet. Die Wolle wird im Zuge dieses Vorgangs zum einen gereinigt, zum zweiten gibt sie ihr Fett ab, das man zu anderen Zwecken (z.B. Hautpflege, Einfettung der Zeltaußenwände) weiter verwenden kann. Zum dritten gewinnt das Gewirk eine Festigkeit, die bei entsprechend langer Bearbeitung bis an die Qualität von Holz heranreichen kann. Das Rohmaterial verliert im Zuge des Filzens deutlich an Gewicht, was den Transport erheblich erleichtert.

Die Herstellung insbesondere größerer Filzwände ist eine harte Arbeit, die nur in Kooperation zu leisten ist. Traditionell ist das Filzen eher eine Männerarbeit. In der Regel sind jedoch auch die Frauen und Kinder des Klans zumindest an der Aufbereitung der Wolle und ihrem Auslegen beteiligt. Die Mechanik des Filzens erfordert ein Arbeiten im Rhythmus, was in der Abstimmung ein intensives Gemeinschaftsgefühl erzeugt. Gelegentlich werden die angefilzten Teppiche zu Bündeln geschnürt, die von Pferden über unebene Böden gezogen werden.

Die Herstellung von Filz - insbesondere das handbetriebene Walken - indes ist nicht nur ein körperlicher sondern auch ein meditativer Prozeß. Wolle reagiert auf eine unterschiedlich konzentrierte und intensive in jedem Fall aber ganzkörperliche (also nicht aus dem Sitzen zu leistende) Zuwendung bei dieser Arbeit tatsächlich mit sehr verschiedenen Intensitäten des Verfilzens. Das erklärt, daß auch bei gleichem Material und relativ standardisierten Bedingungen unterschiedliche Menschen sehr unterschiedliche Zeiten benötigen, um das ungefähr gleiche Resultat zu erzielen. Das ganze ist ein nicht mehr rein naturwissenschaftlich zu erklärender Vorgang. Hier spielen auch parapsychologische Faktoren eine Rolle. Die psychische Kraft ist in dem handgemachten Filz gegenwärtig. Deshalb wärmt Filz nicht nur den Körper sondern auch das Herz.

Das Weben ist ein sehr viel intellektuellerer Vorgang als das Filzen. Die Vorleistungen des Webers sind eine äßerst komplexe Planung: die Einrichtung des Webstuhls, die Abstimmung der Farben und Garne und die Ablaufplanung. Beim Weben wird gezählt, gemessen und proportioniert. Gerühmt werden Stoffe, die präzise gewebt sind. Solche Stoffe allerdings werden besser von der Maschine als von Menschenhand gefertigt. Schon früh wurden in der Textilindustrie Computer und ihre Vorformen eingesetzt. Auch der Prozeß des von Hand Webens ist ein rythmischer und meditativer Vorgang, allerdings in der psychischen Komponente erheblich feinstofflicher. Gewebe sind vielfältiger, feiner, abriebfester und belastbarer als Filze. Im Vordergrund ihrer qualitativen Eigenschaften stehen visuelle Kriterien.

Während der eine Vorgang gegen das Chaos arbeitet, das Material geometrisiert und damit einer höheren Ordnung zuführt, macht der andere Vorgang das Chaos zum Vorteil. Unordnung und gegenseitige Verstrickung führen zu einem Zustand der Stabilität und zu sehr lebendigen Qualitäten. Das Weben in seiner entwickelten Form ist ein Symbol für die zivilisatorischen Leistungen der seßhaften Kultur. Dagegen kontrastiert der handgemachte Filz, der ein ganz und gar nomadisches Produkt ist.



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